18-15 Kasachstan-Grenze, Semej, Atomsee, Kurtschatow, Hauptstadt Astana.



1. August 2018, Mittwoch
Vor dem Frühstück gehen wir in den See zum Waschen. Baden kann man nicht sagen, dazu ist er zu flach. Ich schaffe es bis ins knietiefe Wasser. Petra bleibt im knöcheltiefen Wasser.
Bis zur Grenze sind es 43 km. Noch in Rubzowsk zeigt uns unsere Reifenluftdruckalarmanlage einen rapiden Druckverlust im selben Reifen an, der vor fünf Tagen schon Mal kaputt war. Wir haben Glück, eine Schinomontasch / Reifenwerkstatt ist direkt neben uns!!! Ranfahren, Fehler suchen, das Leck ist diesmal nicht auf der Lauffläche, sondern beim Übergang von der Lauffläche zur Seitenfläche. Der Reifen muss von der Felge genommen und von innen repariert werden. Klebefläche säubern, mit Gummilösung einpinseln, trocken fönen, Klebepad anpressen und schon kann der Reifen wieder auf die Felge montiert und das ganze Rad wieder ans Wohnmobil angeschraubt werden. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Preis 350 Rubel, das sind umgerechnet 5€. Kaum zu glauben!
Weiter zur Grenze. Vorher schließen wir noch eine Autoversicherung für Kasachstan ab und kaufen zwei Beeline-SIM-Karten für Kasachstan für umgerechnet 2x1,40 € (100 Rubel). „Und diese sind in Kasachstan sofort einsatzbereit?“, „Ja!“.
An die Grenze. Wie hier üblich, Blockabfertigung. Eine bestimmte Anzahl Fahrzeuge wird in die Grenzübergangsstelle reingelassen, der Rest muss vor der Schranke auf unbestimmte Zeit warten.
Die Ausreise aus Russland dauert eine Stunde. Dann in der Schlange vor einem weiteren Schlagbaum warten, warten, warten.

Irgendwann sind wir dann in einem Raum, in dem die Papiere und der „Gesichtsausdruck“ kontrolliert und per Videokamera aufgenommen wird. Nach weiteren drei Stunden sind wir endlich in Kasachstan. Visafreien Grenzverkehr zwischen befreundeten GUS-Staaten stelle ich mir anders vor. (GUS – Gemeinschaft unabhängiger Staaten!!!). Für mich geht es hier um „Abschreckung durch Warten“. Es kann aber auch sein: „Erhalt des Arbeitsplatzes“. Man stelle sich mal vor, es gäbe hier eine flüssige Abfertigung. Die vielen Beamten auf beiden Seiten hätten bei dieser geringen Anzahl von Personen und Fahrzeugen prinzipiell sehr wenig zu tun. Nach insgesamt vier Stunden sind wir durch.   
Kasachische Steppe

Heute kommen wir bis nach Semej. Übernachtung: schlechter Platz, gegenüber eine Bushaltestelle

2. August 2018, Donnerstag
Wir sind fast mit dem Frühstück fertig. Unsere erste korrupte Polizeikontrolle. Ein Polizeiauto fährt vor. Es klopft an der Tür. Ich möchte bitte mitkommen in ihr Auto. Ich nehme meine Kaffeetasse mit. Alles sehr freundlich. Ich solle „Straf“ bezahlen. Hier sei Parken für uns verboten. Ich bleibe sehr freundlich und lächle die beiden Beamten nur an. Das sollen sie mal einem Ausländer, der kein kasachisch kann rechtlich sauber verklickern. Sie versuchen mir zu erklären, dass hier nur die Hausbewohner von gegenüber parken dürfen. Ich zeige auf die Toreinfahrt und erkläre, wo der Hausbewohnerparkplatz ist. Ihnen gehen wegen meiner Dreistigkeit die Argumente aus. Plötzlich habe ich alle meine Dokumente wieder und sie wünschen uns gute Weiterfahrt. Wir lassen uns Zeit und fahren später weiter. 
Etwas später kommt ein Kasache vorbei. Als erstes zeigt er mir stolz sein Smartphone. Auf der Rückseite ist ein Hakenkreuz eingebrannt. Er ist ein richtiger Kasache, der noch körperlich arbeitet.
Etwa 300m von uns entfernt steht ein Wohnmobil mit polnischem Kennzeichen. Anhalten, zurückrollen, aussteigen und eine geschlagene Stunde die Erlebnisse austauschen. Sie waren auch in der Mongolei und haben für rund 500 km straßenlose Strecke sieben Tage gebraucht. Wir stellen fest, mit dem Umweg über Russland haben wir wohl alles richtig gemacht!!! Andrzej und Theresa kann man unter kamperemprzezswiat.blogspot.com  auf ihrem Blog folgen. Vielleicht sehen wir uns irgendwann in den nächsten Monaten wieder. Wir würden uns sehr freuen!

Unsere SIM-Karten müssen aufgeladen werden. Wir brauchen einen Beeline-Shop. Doch, wo ist einer? In die Stadt fahren, hier gibt es keine Werbung für Telefonfirmen. Fragen - im ZUM, dem Zentralen Universal Kaufhaus. In ein Elektrogeschäft. Ein junger Mann will uns an den zentralen Beeline-Shop verweisen. Ich sage, wir wollen nur unsere Gigabite aufladen. Er geht mit uns zum nächsten Terminal und lädt beide Smartphones auf. Ganz lieb!
Was machen wir heute noch? Weiterfahren zum Atomkratersee in der kasachischen Wüste oder hierbleiben und morgen fahren? Wir entscheiden uns für morgen weiterfahren. Das gibt uns die Möglichkeit kurz in die Stadt zu gehen und im Internet über unsere Umgebung zu recherchieren.
Das Theater von Semej hat eine recht eigenwillige und für uns abstoßende Form. Viel Beton, im Zentrum ein Aussehen wie ein kaputtes, entkerntes Gebäude und an den Ecken Formen, die uns stark an Wachtürme erinnern. Eine bauliche Anspielung auf das Polygon, das Testgelände für die über 450 hier durchgeführten Atomwaffentestversuche? 1,5 Mio. Kasachen, 10% aller Kasachen sind verstrahlt. Jeder zehnte Einwohner dieses Landes!
Theater in Semej


Übernachtung: N50.402711° E80.249286

3. August 2018, Freitag

Wir fahren zum Atomsee. Andrzej und Theresa aus Polen hatten uns auf der Karte gezeigt, wo dieser See liegt. Etwas über 100 km bis dorthin. Nach 3 ½ Stunden auf der welligen und nur langsam zu fahrenden Asphaltstraße sind wir am Abzweig auf die Piste.
Die im Text beschriebene gelbe Piste ist hier grün und rot übermalt. Der grüne Teil wäre besser zu fahren gewesen.

Von hier aus sollen es noch rund 5 km sein. Ja, ein See ist dort hinten. Nur es führt kein Weg dorthin. Das stimmt nicht mit den Beschreibungen von Andrzej überein. Weiterfahren. Wir kommen auf die in der Karte gelb eingezeichnete Piste. Einige Kilometer weiter bis zum nächsten Pisten-Abzweig. Hier trinken wir Kaffee. Ein Motorradfahrer kommt 3x vorbei. Wir fragen nach dem Atomsee. «Ja, fünf Kilometer Piste hier entlang.» ; «Ist das wirklich der Atomsee?» «Ja!»
Wir fahren hin. Großer See, Angler. Wir fragen die Angler: «Ist das hier der Atomsee.» «Ja!»
Sie bieten uns von ihren Fischen einige an. Wir lehnen dankend ab.  Eventuell verstrahlte Fische, nein danke!
Auf dem Weg zum "Atomsee"

Das ist nur eine Flachwasserfläche, die wir zuerst für den gesuchten See halten.

Strahlende Fische, nein danke! Dieser See hat eine um das 400-Fache erhöhte Strahlung als erlaubt ist. (Zumindestens haben wir das in einem Artikel gelesen.)

Atomsee, sollte ein Beispiel für zivile Nutzung der Atomkraft sein. Schaffung von großen Umgestaltungen der Landschaft durch Atomkraft - so haben wir es gelesen.

Der See gefällt uns. Aber irgendwie fehlt etwas. Die Explosion muss doch Veränderungen im Gelände hinterlassen haben. Diese sehen wir nicht. Nachlesen und in der Satelittenansicht nachsehen können wir hier nicht, es gibt in dieser Einöde kein Internet. Also erst in Semej recherchieren. Bis dahin grübel, grübel.
Und er war es doch, der See. Wie ist er entstanden? Ein 178 m tiefes Loch wurde gebohrt, die Atombombe unten rein, Zündung, Detonation. Der Druck geht nach oben weg und bildet oben einen Krater, dabei wird das Material nach oben rausgeschleudert und fehlt unten in der Erde. Die Erde bricht ein, zusätzlich zum Kratersee, entsteht ein «Einbruchsee» , die beide miteinander verbunden sind, beide zusammen bilden den «Atomsee». Der vorbeifließende Fluss Chagan füllt das ganze Gebilde und gibt ihm den Namen Chagansee.
Hier alle nötigen Koordinaten:
Abzweig von der P 137 auf die gelbe Piste: N49.9052795° E79.1894662°
Abzweig von der Piste zum See: N49.9546167° E79.0690518°
Am See waren wir bei: 49.9200651° E79.0167125°
Zum Krater kommt man weiter nördlich, wir waren dort nicht. Sollte ein Blogleser dorthin fahren, vorher bitte bei Google in der Sat-Ansicht den Krater suchen, müsste nördlich vom großen See fast kreisrund sein, wenn alles klappt, dann bitte ein Kraterseefoto an mich. 
Wir waren schon mutig genug, hierher zum Atomsee zu fahren. Hier kann man bestimmt sehr gut übernachten. Auch, wenn unsere Familienplanung schon abgeschlossen ist, zuviel Strahlung wollen wir nicht aufnehmen. Zurück nach Semej. Diesmal übernachten wir auf einem bewachten Parkplatz mitten in der Stadt: N50.40269° E80.25391° Höhe 204m

4. August 2018, Sonnabend
Unser nächstes Ziel ist die Stadt Kurtschatow. Kurtschatow war die Hauptstadt des Polygon. Hier lebten die Physiker und weitere Wissenschaftler und arbeiteten am Bau der Atombombe und der Optimierung dieser Tötungsmaschinen. Die erste Bombe war ein Nachbau der Hiroshimabombe. Die Baupläne hatte der sowjetische Geheimdienst sich in den USA «besorgt». Ob das funktioniert war die große Frage. Von Kurtschatow, dem Leiter des Atomprogramms wird gesagt, dass er beim Nichtzünden der ersten A-Bombe mit dem Tod durch standrechtliches Erschießen noch auf dem Testgelände gerechnet hat. Stalin hatte die Zündung der ersten Atombombe schon für 1948 befohlen gehabt. 1949 erst die Realisierung.
 Mit Polygon wurde das Testgelände bezeichnet. Es umfasste 18 500 km². Das entspricht in etwa einem Rechteck von 120 km x 150 km Seitenlänge oder der Fläche von Mecklenburg-Vorpommern. Die erste Atombombe wurde 1949 gezündet, die letzte 1989. In 40 Jahren sind in diesem Gebiet über 455 Atombomben gezündet worden, davon wurden 138 über der Erdoberfläche gezündet. Diese Bomben sind vergleichbar mit 2500 Hiroshimabomben nur in diesem Gebiet. Die Zivilbevölkerung wurde nie ehrlich informiert. Das Polygon mitsamt der Stadt Kurtschatow war verbotene Zone. Die Strahlenopfer müssen nachweisen, dass ihre Erkrankungen tatsächlich von der Atomstrahlung stammt. Und das bei nachweisbar über 1 500 000 Strahlengeschädigten. Als nächstes wollen die Japaner zusammen mit Kasachstan hier ein Atomkraftwerk bauen! In den letzten Tagen haben wir viel gelesen, es ist unfassbar. Alles im Namen der Menschlichkeit und des Sozialismus / Kommunismus. Ein unerklärter Krieg gegen die eigene Bevölkerung! 
Wir fahren auf einer schlechten Straße die 140 Kilometer bis Kurtschatow. Entkernte Häuser auf der eine Seite und Bautätigkeiten auf der anderen Seite.
Am Ufer des Irtysch

Am Ufer des Irtysch

Unser erster Eindruck in Kurtschatow


Denkmal von Kurtschatow vor dem Kulturhaus

Die Vorbereitungen für eine «Kernkraftstadt» laufen. Leute auf den Straßen, eine Moschee sehen wir. Das wird wieder eine schöne Stadt am Hochufer des Irtysch. Hoffentlich ohne den größten anzunehmenden Unfall (GAU).
Nach einem Disput einigen wir uns darauf, nicht ins frei zugängliche ehemalige Testgelände zu fahren. Petra kann diese Ungerechtigkeiten, das Leiden der Strahlenopfer, den Zynismus der roten Zaren und die Angst vor der immer noch stark erhöhten Radioaktivität kaum aushalten. Es bereitet ihr zunehmend körperliches Unbehagen. Sie will nur weg von hier.
50 km wären es über Pisten bis zu den Kratern und Anlagen. Weit weg von den Wissenschaftlern. Aber es soll selbst für unser Auto fahrbar sein.
Wir fahren, nach dem Kaffee trinken mit einem phantastischen Blick auf die Irtysch-Ebene, weiter. Zwischendurch fehlen rund 20 km Straße. Über 100 km weiter finden wir in Kirivo vor dem Kulturhaus einen ruhigen Stellplatz für die Nacht.
Übernachtung: N51.4271154° E77.5496230°

5. August 2018, Sonntag
Wir fahren weiter, erstmal nur in Richtung Astana. Die Straßen werden besser (nur zweimalmal sind Baustellen auf Pisten zu umfahren), so dass wir uns entscheiden bis in die Hauptstadt Kasachstans zu kommen.
Unterwegs - Bewässerungskanal mit Stromerzeugung.

Unterwegs - Bewässerungskanal mit Stromerzeugung.

Unterwegs - Bewässerungskanal mit Stromerzeugung.

Unterwegs - Bewässerungskanal mit Stromerzeugung.

Dann der Schock. Die Stadt grüßt uns mit einer stinkenden Müllkippe und stark qualmenden Industrieanlagen. Wir hatten uns von einer neu gebauten Hauptstadt einen anderen Stadtrand vorgestellt. Größte anzunehmende Endtäuschung=GAE! Die Straßen selbst sind breit, einige Autofahrer meinen, dass sie auf einer Rennstrecke sind. Hohe Geschwindigkeit, schneller Spurwechsel, dabei wird nicht geblinkt. Wichtig ist, das man laut und schnell fährt. Das erzeugt schon mal gefährliche Situationen.
Wir fahren ohne Navi, nur nach Gefühl durch die Stadt und kommen in die Altstadt. Wie bestellt, kommen wir an einem bewachten Parkplatz, einer Avto Stojanka, an. Eine Nacht für 500 Tenge - rund 1,25€, ein Tag für 1000 Tenge – rund 2,50€. 
Es ist angenehm warm, die Gegend am Fluss ist klasse gestaltet, unglaublich viele Leute sind unterwegs, es ist eine angenehm, heitere Stimmung. Straßenmusiker spielen und eine große „Wassermusikanlage“ ist in Betrieb. Wir fotografieren die blinkenden und farbig illuminierten Gebäude. Einfach nur schön! Eigentlich kann man das nicht toppen.
Unser Stellplatz für die nächsten Tage

In der Altstadt am Flussufer

Märchenhafte Beleuchtung

Kleinigkeiten können so schön sein.





Doch es geht.
Neben uns ein junger Mann im gebrochenen Deutsch: „Ihr kommt aus Deutschland?“ „Ja.“ Ein Gespräch entwickelt sich. Die Reiseroute wird erklärt. „Unser Urlaub ist gerade vorbei. Wir waren in Armenien, Georgien und Russland, auch mit dem Auto.“ "Wir wollen dort noch hin." Die Frau mit den drei kleinen Kindern kommt hinzu. „Ihr müsst unbedingt zu uns nach Hause zum Tee trinken kommen.“ Ablehnen geht nicht.
Zum Tee trinken in eine Wohnung neben unserem Parkplatz. Groß, aller Komfort, in allerbester Innenstadtlage, super modern und geschmackvoll eingerichtet. Bis nach Mitternacht trinken wir Tee. Supergute Gespräche. Womit soll ich anfangen? Junge Leute, drei Kinder von 2, 4 und 7 Jahren. Sie noch ein Jahr im Mutterschaftsurlaub, arbeitet im Finanzministerium. Er hat ein Autoteile – Business. Beide sind sie zufrieden mit ihrem Leben.
Kasachische Gastfreundschaft!

Bei ihm in der Schule waren von 30 Schülern 15 Deutsche. Diese sind mit ihren Eltern innerhalb weniger Jahre alle nach Deutschland ausgewandert. Von den fünf Russen in der Klasse sind auch einige zurück nach Russland gegangen. Vor einem Jahr gab es ein Klassentreffen mit „internationaler Beteiligung“ und ein Staunen, wie sich Kasachstan entwickelt hat.
Bei allen offensichtlichen Problemen, wir staunen mit.   
Übernachtung: Avto Stojanka in der Altstadt: N51.16031° E71.42704° Höhe 375m

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